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L`Eixample 2

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Kultureller Streifzug durch Barcelona

Der Stadtteil L´Eixample (oder L´Ensanche)

Kleine architektonische Wallfahrt

Wir schlagen nun einen Rundgang vor, der sich ohne weiteres zu Fuß bewältigen läßt. Er führt zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten in Eixample, an erster Stelle natürlich zu den Bauwerken Gaudís und seiner Gesinnungsgenossen.

Startpunkt ist die Plaçà de Catalunya. Zur Einstimmung auf die Gaudí-Schöpfungen hält die Ronda de Sant Pere schon ein paar Leckerbissen als Vorspeise bereit: so die Nr. 3, die Konditorei Llibre i Serra, die Nr. 16, das Schreibwarengeschäft Teixidor, und die Nr. 40, die Apotheke Viladot. Zwei Schritte weiter, in der Carrer Casp 48, erhebt sich die 1898 von Gaudí geschaffene Casa Calvert. Zwar sind die Balkone originell, aber ansonsten ist das Haus noch lange nicht seine verrückteste Schöpfung.
Der Passeig de Gràcia erweist sich ebenfalls als architektonische Fundgrube. Nr. 35, die Casa Lléo Morera, ist ein Werk von Lluis Domenech i Montaner aus dem Jahre 1905; heute ist darin das »Patronat de Turisme« untergebracht. Fünf Jahre früher entstand Nr. 41, die Casa Amatller, mit gotischen Fenstern und einem flämischen Spalierdach. Nicht weit davon die Casa Batlló, ebenfalls Baujahr 1905, die mit ihrem verschnörkelten Dach und der bunten Fassade höchst originell anmutet. Kein Wunder - hier war wieder Gaudí persönlich am Werk. Wer es näher in Augenschein nehmen möchte, sollte unter der T. 204 52 50 einen Termin vereinbaren. Eine höfliche Anfrage am Tor hat aber auch schon zum Erfolg geführt.

Da wir schon einmal in dieser Ecke sind, sollte man noch den privaten Durchgang Permanyer, eine Seitenstraße der Pau Claris, hinaufmarschieren. Sie wird von spätromantischen Häusern, Palmen und kleinen Gärtchen gesäumt.

Nr. 92 des Passeig de Gràcia, Ecke Provenca: die Casa Milà, das berühmteste Wohnhaus Gaudís, Baujahr 1910. Jack Nicholson bewohnte es in dem Antonioni-Film »Beruf Reporter«. Ein Inaugenscheinnahme ist kostenlos möglich von Montag bis Freitag um 10, 11, 12 und 13h. Telefonische Anmeldung ist kein Fehler, denn die Zahl der Führungsteilnehmer ist begrenzt. Das Gebäude wird auch »la Pedrera« genannt und von vielen für den Gipfel abstrakter Kunst, für ein Fantasieprodukt ohnegleichen gehalten. Gaudí hat hier radikal mit dem herkömmlichen Grundriß einer Fassade gebrochen und die Möglichkeiten plastischer Verformung auf die Spitze getrieben. Extravagante, schmiedeeisernen Balkone. Von den Dächern eröffnet sich ein atemberaubender Blick auf die Stadt und die Sagrada Familia.

Auf der rechten Seite der Kreuzung Diagonal/Passeig de Gràcia, auf der Diagonal, weitere ungewöhnliche Bauten. Nr. 373, der Palacio Quadras (1904), beherbergt ein sehenswertes Musikmuseum. Auf der anderen Straßenseite die Casa Comalat, Nr. 442, deren rückwärtige Fassade von der Carrer Corsega (Nr. 316) sichtbar ist. Hinter Hausnummer 416 verbirgt sich ein ganzer Häuserblock, die Punxes (1904). Mit seinen Türmchen und spitzen Kegeln erweckt er den Anschein eines mächtigen Barockschlosses. Auf dem Weg zur Sagrada Familia lohnt im Vorbeigehen noch ein Blick auf die Casa Macaya (1901), Passeig St. Joan, 108.
Sagrada Familia: Metro: Sagrada Familia. Einlaß von 9-19h im Winter, bis 20h von April bis Juni und bis 21h im Juli und August.

Die »mittelalterliche Kathedrale«, deren Hauptfassade mittlerweile als Wahrzeichen Barcelonas gilt, ist das Hauptwerk Antonio Gaudís. Nachdem 1883 mit den Bauarbeiten begonnen worden war, wurde der erste Abschnitt 1926 abgeschlossen. Manch einer wird sich über die Kühnheit der Architektur wundern, vor allem wenn man bedenkt, wie konservativ die kirchliche Ordnung damals war. Dazu muß man wissen, dass die Kirche im beginnenden Industriezeitalter bedeutend an Einfluß verloren hatte und gewillt war, ihre alte Machtposition zurückzugewinnen. 1893 stellten die Kirchenväter ihre finanzielle Unterstützung ein und verlangten von Gaudí, die Architektur der Kathedrale kühner und großartiger zu gestalten. So erklärt sich auch die Überdimensionalität der Fassade »Christi Geburt«. Außer dieser sollte das Bauwerk noch die Fassaden »Leiden und Tod Christi« und »Die Ehre Gottes« erhalten. Pro Fassade waren vier Türme vorgesehen, welche die Apostel darstellen sollten, ein Strebebogen in der Mitte, ähnlich einer Hängebrücke, und schließlich ein ganz großer Turm, der alles überragen und den Erlöser persönlich symbolisieren sollte. Ab 1915, als zusehends die Mittel knapp wurden, verzichtete Gaudí auf sein Gehalt und ergriff bis zu seinem Tod eine regelrechte Flucht nach vorn. Nach seinem Ableben kamen die Arbeiten so gut wie vollkommen zum Erliegen. Sie wurden erst 1952 wieder aufgenommen, als die Kirchenväter im Zuge des vom Franco-Regime heraufbeschworenen, katholisch geprägten Nationalgefühls darin eine Möglichkeit zum Prestigegewinn witterten.

Anfang der sechziger Jahre entstand jedoch eine Bewegung, die sich gegen die Fortsetzung der Bauarbeiten wehrte und die auch berühmte Gestalten wie Le Corbusier und Miró zu ihren Fürsprechern zählte. Sie argumentierten damit, dass nicht mehr genug Pläne vorhanden seien und dass man Gefahr laufe, das Werk entgegen Gaudís Vorstellungen zu gestalten, ja zu verderben. Nichtsdestoweniger wurden die Arbeiten in den letzten zwanzig Jahren fortgesetzt, mit dem Ergebnis, dass die Fassade »Leiden und Tod Christi« samt ihren vier Türmen inzwischen steht und den Innenraum abschließt. Die Polemik ist jedoch keineswegs verstummt: viele Zeitgenossen sind der Meinung, die neue Fassade sehe wie eine geschmacklose Karikatur der alten aus und beraube die Kathedrale ihrer ursprünglichen Identität. Eine Fassade bleibt immer noch unvollendet. Ob die Sagrada Familia wohl jemals fertiggestellt wird? Gaudí selbst hatte geschätzt, dass der Bau je nach dem Grad der technischen Entwicklung zwei Jahrhunderte dauern würde.

Die Querelen der Ästheten hindern den unvoreingenommenen Betrachter aber keineswegs, die Kathedrale in ihrem gegenwärtigen Zustand zu bestaunen, mit großen Augen wie angewurzelt vor ihr zu stehen und dieses architektonische Delirium, die Fassade »Christi Geburt« mit ihren originellen geometrischen Formen, auf sich wirken zu lassen. Die Vielfalt an Symbolen verrät den Einfluß von Träumen und Unbewußtem und kündigt den Surrealismus an. Wir können die Türme übrigens - gegen einen Obolus, versteht sich - mit dem Fahrstuhl »erklimmen« oder die Treppen hinaufkeuchen.

Von hier oben liegt einem die ganze Stadt zu Füßen. Von einem Turm zum nächsten führen schmale, zugleich erschreckende und monumentale Übergänge, die manchem nicht ganz geheuer scheinen werden, vor allem, wenn vom Meer her ein kräftiger Wind bläst.

Architekturbegeisterte besuchen das kleine Dommuseum in einer Art Krypta im Chor, das anhand von Plänen und Fotografien eingehend über die einzelnen Bauphasen informiert. Es gelten dieselben Öffnungszeiten wie für die Kathedrale.